Bürgerbrief 6: September 1979

Die Schürfung

Es war wieder mal so weit. Ein weiterer Schritt zur Sanierung des alten Ortskernes von Walsdorf sollte getan werden. Schon lange hatte man den Termin ins Auge gefaßt, nur festgelegt war er noch nicht. Schon anläßlich der Bohrung durch das Landesamt für Bodenforschung im vergangenen Jahr war man sich darüber klar, daß eine Schürfung als Ergänzung zu dem zu erstellenden Gutachten über die Standfestigkeit der Ringmauer von Walsdorf notwendig sei.

Zunächst jedoch mußte das nächste Frühjahr abgewartet werden. Weiterhin waren die Aufträge für das statisch konstruktive Gutachten zu erteilen, sowie ein entsprechender Unternehmer, der die Schürfung vornehmen konnte, zu finden. Als schließlich alle Beteiligten feststanden, mußte besagter gemeinsamer Termin vereinbart werden. Am 25. Juni 1979 traf man sich dann vor Ort. Als erster war selbstverständlich der Baggerfahrer mit seinem Gerät erschienen. Um 8.00 Uhr vormittags, als dieser bereits gefrühstückt hatte, trafen dann der Vertreter des Ing.-Büros und der dafür zuständige technische Angestellte der Stadt ein. Die beiden Abgesandten des Landesamtes für Bodenforschung wollten, wie vereinbart, später dazustoßen. Sie hatten bereits telefonisch zugestimmt, daß ohne ihr Beisein am östlichen Mauerfuß mit den Schürfungen begonnen werden konnte, da hier keine Bodenproben entnommen werden mußten.

In Höhe des Hauses Untergasse — schritt man dann zur Tat. Nachdem der Baggerfahrer viermal kräftig zugelangt hatte, ließ der Stadtangestellte noch einmal stoppen. Er hatte nämlich vergessen, die Grundstückseigentümer vorher zu informieren,. Stehenden Fußes eilte er zur Untergasse – und nach mehrmaligem Klingeln öffnete die Eigentümerin . Etwas verlegen freundlich erklärte er dieser dann sein Anliegen, worauf sie antwortete: ‚ Ich habe ja schon gesehen, was Sie da treiben und ich habe mich auch geärgert, daß mir keiner was gesagt hat. Das finde ich nicht richtig. ‚ Darauf der Verwaltungsangestellte: ‚Sie müssen schon entschuldigen, aber ich hatte schon einmal geklingelt und mir wurde nicht geöffnet“.  (Was Besseres war ihm nicht eingefallen). Er setzte dann der Frau mit wortreichen Erklärungen die Gründe auseinander, welche die Schürfung erforderlich machten. Nachdem er den Eindruck des entsprechenden Verständnisses seines Gegenüber hatte, eilte er zurück an den Ort des Geschehens, und die Arbeit wurde fortgesetzt.

Die Eigentümerin kam dann auch noch durch den hinteren Treppenabgang hinzu und zeigte sich sehr interessiert an dem, was da zu Tage kam.

Kurz darauf erschien ein Nachbar, der nach Sinn und Nutzen des Baggerns fragte. Aus dem Gespräch ergab sich, daß der Betreffende einen Antrag beim Amt für Landwirtschaft und Landentwicklung auf Zuschuß für die Renovierung seines Daches an der Scheune vor längerer Zeit gestellt hatte. Er reklamierte den Bescheid und erklärte weiter, daß bereits durch den früheren Walsdorfer Bürgermeister, welcher ebenfalls bei der Stadt Idstein beschäftigt ist, bei der betreffenden Stelle in dieser Sache nachgeforscht wurde und dieser ihm mitteilte, daß sein Antrag nicht aufzufinden gewesen sei.
Der Verwaltungsangestellte versprach, sich um diese Angelegenheit nochmals zu kümmern und ihn über das Ergebnis seiner Nachforschungen zu unterrichten.

Mittlerweile waren weitere interessierte Bürger hinzugekommen, darunter eine Dame, welche ebenfalls einen solchen, bereits vorerwähnten Antrag gestellt hatte. Auf Befragen erklärte sie, daß dies schon vor 4 Wochen geschehen sei, worauf der Stadtangestellte ihr antwortete, daß diese Zeitspanne noch keine Reklamation rechtfertige. Den Umstehenden wurde in diesem Zusammenhang erklärt, daß in diesem Jahr letztmalig die Gelegenheit bestehe einen derartigen Antrag auf Zuschuß zu stellen. Bezuschußt werden, dies wurde an dieser Stelle nochmals wiederholt, Dach, Wand, Fenster, Tür, Tor und alles, was damit zusammenhängt. Die Zuschußhöhe würde maximal pro Gebäude DM 15.00 bzw. 30 % der Gesamtkosten betragen.

Während dieses Gespräches hatte der Baggerfahrer ein beträchtliches Loch gegraben, und der Statiker konnte sich ein Bild von dem Mauerfuß machen. Mittlerweile waren auch die beiden Vertreter des Landesamtes für Bodenforschung eingetroffen, welche ebenfalls den Mauerfuß eingehend untersuchten.
An dieser Mauerseite wurden zwei weitere Schürfungen vorgenommen, nachdem mit den Eigentümern verhandelt wurde. Jede Schürfung verlief etwa so, wie die erstgeschilderte, d.h. der Angestellte der Stadt informierte alle Umstehenden, der Baggerführer löffelte seine Löcher, und die beiden Geologen sowie der Statiker sahen in dieselben. Um die Mauerdicke und die Materialbeschaffenheit der Hinterfüllung festzustellen, mußten auch an der Mauerkrone entsprechende Grabungen vorgenommen werden. Dies war in der Scheune des Anwesens Untergasse vorgesehen. Hier fand man freundliche Aufnahme bei den Eigentümern. Zunächst jedoch konnte dieses Vorhaben nicht verwirklicht werden, da das Gerät nicht durch das Scheunentor paßte.

So begab man sich an die Westseite des Mauerrings auf das Anwesen, auf dem seinerzeit eine der 3 umgefallenen Scheunen stand.

Man verständigte sich wie gewohnt zunächst mit der Eigentümerin. Nachdem der Bagger sich durch die enge Einfahrt gezwängt hatte – es ging hier wirklich um Millimeter – mußten noch eine Absperrung und ein Stuhl zur Seite geräumt werden, und man war auf der besagten Grabungsstelle oberhalb der Mauer. Hier wurde ein ca. 3 m tiefes Loch gegraben, damit man sich ein klares Bild über die Mauerhinterfüllung und die Beschaffenheit derselben verschaffen konnte. Der Angestellte der Stadt war wie bereits bei den vorgenannten Grabungen im Gespräch mit Nachbarn vertieft, als bei etwa 2 m Lochtiefe der erstaunte Hausherr erschien, der schließlich auch noch sein Einverständnis gab. Bei der Unterredung stellte es sich heraus, daß er schlechte Erfahrungen mit der Verwaltung gemacht hatte. Ein Bauantrag, welcher nach dem Zusammensturz der Scheune gestellt wurde, war abgelehnt worden. Ihm wurde erklärt, daß das durchaus seine Berechtigung hatte, da die Absicht bestand, ein Gebäude mit einem Pultdach zu errichten.

Es wurde ihm weiter erklärt, daß bereits vonder Verwaltung ein Bebauungsplan in Vorbereitung sei, welcher an dieser Stelle eine Bebauung vorsieht, allerdings nicht mit Pultdach, sondern mit einen Satteldach und mit Abmessungen, welche den früher eingestürtzten und den jetzt noch bestehenden in der Nachbarschaft befindlichen Gebäuden entspricht. Dies, so wurde ihm weiter erklärt, sei übrigens das Grundprinzip in Walsdorf, damit das altgewohnte Ortsbild erhalten bleibt. Auf die Frage, ob er denn tatsächlich wolle, daß die alten Scheunen und besonders die, welche auf der Mauer stehen, abgerissen werden und dafür irgendwelche seelenlosen undefinierbaren Einheitskisten entstehen sollen, erwiderte dieser, daß er das so auch nicht meine. Daraus zog der Stadtangestellte den Schluß, daß das unmittelbare Gespräch und der ständige Kontakt mit der Bevölkerung ein wichtiger Bestandteil der Dorferneuerung in Walsdorf sein und bleiben müsse.

Nachdem man auch noch an dieser Stelle am Mauerfuß gegraben hatte, war es Zeit für die Mittagpause. Man traf sich am Nachmittag wieder, und der Angestellte der Stadt hatte noch drei weitere Helfer organisiert, welche das vorerwähnte Grundstück soweit es möglich war, in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzten.

Die Arbeiten wurden dann in der Scheune des Anwesens Untergasse — mit Pickel und Schaufel fortgesetzt. Hier konnte das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden werden, da der Eigentümer ohnehin beabsichtigte, eine innenliegende Treppenanlage zu dem tieferliegenden östlichen Grundstück einzubauen. Um dem Eigentümer die Erdarbeiten zu erleichtern, wurde die Schürfung an der für die Treppe vorgesehenen Stelle vorgenommen. Die städtischen Arbeiter hatten schnell ein ansehnliches Loch gegraben, und man konnte sich überzeugen, daß die Hinterfüllung, wie auf der Westseite ebenfalls schon festgestellt, aus Brandschutt bestand. Bekanntlich hatten ja in Walsdorf mehrere Brände gewütet und die ursprünglichen Gebäude, welche in einem Abstand von mehreren Metern von der Mauer standen, vernichtet. Hinter den Gebäuden fiel das Gelände zum Mauerfuß hin ab. Dieser Keil wurde mit dem Brandschutt verfüllt, und die neuen Scheunen auf der Mauerkrone errichtet.
Die beiden Geologen entnahmen auch hier entsprechende Bodenproben, welche im heimischen Labor einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden sollen.

Das Ergebnis der Untersuchungen, d.h. der bereits im vergangenen Jahr vorgenommenen Bohrungen, der Schürfung, der Untersuchung der Bodenproben sowie die Feststellung der einzelnen Mauerstärken findet in dem noch austehenden statischen konstruktiven Gutachten seinen Niederschlag. Dieses Gutachten wird Grundlage für die Einzelbeurteilung des jeweiligen möglicherweise vorgenommenen Scheunenausbaues sein.

Obwohl die gesamte Ringmauer nicht in dem Besitz der Stadt ist, wollte man den Eigentümern nicht zumuten, einederartige Untersuchung selbst durchführen zu lassen, da bei jedem Bauantrag eine entsprechende statische Berechnung in jedem Falle erforderlich ist. Diese Berechnung ist durch die Untersuchung nicht überflüssig, aber erheblich erleichtert worden, da auf Daten und Zahlen ggf. zurückgegriffen werden kann.

Abschließend begab man sich gemeinsam nochmals z u dem Anwesen, Untergasse 22, welches ja bekanntlich die Stadt erworben hatte, um es als beispielgebendes Objekt auszubauen. Im Rübenkeller der Scheune wurden ebenfalls die Mauerstärke festgestellt und die Gründung der Brandmauer untersucht. Es wurde dabei festgestellt, daß zwischen der Brandmauer und der Ringmauer keine Verbindung besteht. Auch hier mußte der städt. Angestellte interessierten Nachbarn Fragen beantworten. So wurde z.B. gefragt, warum die Stadt mit dem Ausbau noch nicht begonnen habe. Dies, so wurde dem Betreffenden erklärt, liege daran, daß die Stadt derzeit versucht, in ein Bundesforschungsprogramm aufgenommen zu werden. Staatssekretär Dr. Sperling habe ja bereits mit seinem Referenten und Vertretern der Stadt das Anwesen besichtigt und eine derartige Förderung in Aussicht gestellt. Das Architekturbüro, welches den Dorferneuerungsplan aufgestellt hat und zur Zeit mit dem Bebauungsplan beschäftigt ist, hat entsprechende Unterlagen zur Verfügung gestellt, welche zur Zeit von diesem Bundesministerium geprüft werden. Sollte diese Prüfung positiv ausfallen, so würde zunächst das Objekt Untergasse 22, möglicherweise in Verbindung mit den Nachbargebäuden, beispielgebend renoviert und im Erfolgsfall möglicherweise der gesamte alte Ortskern vom Bund mit finanziellen Mitteln erheblich gefördert.

Eine der Voraussetzungen und eine der vielen Vorleistungen, die bereits von der Stadt erbracht wurden, sei eben diese Untersuchung der gesamten Ringmauer, welche, wie bereits vorerwähnt, es jedem Sanierungswilligen ermögliche im Falle des Scheunenausbaues auf das noch zu erstellende Gutachten zurückzugreifen.

So und noch weiter wurden jedem interessierten Fragesteller die gewünschten Erläuterungen gegeben.
Wie bei dieser und bei allen vorangegangenen Maßnahmen, seien es Begehungen, Erhebungen oder Besichtigungen von Einzelobjekten im Zusammenhang mit der Beratung des Sanierungswilligen, entsteht Unruhe bei den Bewohnern des alten Ortskernes von Walsdorf. Obwohl in mehreren Bürgerversammlungen schon mehrmals erläutert, sind die Absichten und Ziele der Dorferneuerung noch nicht erkannt. Von dieser Stelle aus bietet ihnen der eben beschriebene Angestellte der Stadt, wie er dies auch schon in vielen verschiedenen Einzelgesprächen getan hat, an, sich mit allen Fragen, die mit der Sanierung und ihrer Finanzierung zusammenhängen, vertrauensvoll an ihn zu wenden. Sie werden stets ein offenes Ohr finden, soweit es sich um Sanierungsabsichten im Sinne der Dorferneuerung handelt.
Für die ihm zuteilgewordene Hilfe und das Verständnis bei dieser schwierigen Arbeit bedankt er sich nochmals.

Garkisch, Techn. Angest. der Stadt Idstein

ARMENUNTERSTÜTZUNG AUS DEM LIVINGSTONFOND

Bei der Suche nach dem Beleg des Gemeindezuschusses für den Bau des Kriegerdenkmals während einer Sitzung des ersten historischen Arbeitskreises bin ich zufällig auf die Quittungsseite der Wilhelmine Lehmann gestoßen, die in einer Kopie diesem Bürgerbrief beigegeben ist. Da Gustav Lehmann schon seit längerem plante ein Portrait dieser Frau zu schreiben, die von den Walsdorfern Wassermine oder auch Nusselmine genannt wurde, kamen wir auf den Gedanken, den Bericht mit der originellen Empfangsbestätigung zu illustrieren.

Wie es so geht, wenn man in alten Büchern blättert und auf ein zün­dendes Reizwort stößt, wird die Neugierde geweckt, und man möchte mehr wissen. So ging es mir mit der Armenunterstützung aus dem Livingstonfond. Viele Fragen tauchen auf, auf die man nur allmählich und in Kombination mit anderen Daten eine zuverlässige Antwort geben kann.

Für alle diejenigen, die keine Gelegenheit hatten, das anläßlich der 1200- Jahrfeier 1974 erschiene Heft „1240 Jahre Walsdorf“ zu erwerben, zunächst ein erklärendes Wort über die Livingstonstiftung. Markus Löwenstein, der sich später Marks Livingston nannte, wurde 1825 in Walsdorf geboren und soll, wie erzählt wird, in der Mitte des 19. Jahrhunderts Gelder aus Viehverkäufen veruntreut haben und nach den Vereinigten Staaten ausgewandert sein. Dort ist er jedenfalls zu Reichtum gekommen. Im Alter kehrte er nach Deutschland zurück und lebte als „Rentier“ in Frankfurt am Main. Im Januar 1888 schenkte er seiner Heimatgemeinde Walsdorf die Summe von 50.000 Reichsmark, die in 3 1/2 prozentiger Reichsanleihe bei der Reichsbank in Berlin unter der Bedingung angelegt war: „Die Zinsen des Kapitals, welche seitens der Reichsbank halbjährlich ausgezahlt werden, sind seitens des Bürgermeisters und der Vorsteher der Gemeinde Walsdorf, wenn und soweit ein Bedürfnis vorhanden ist, für bedürftige und kranke Angehörige der Gemeinde Walsdorf, ohne Unterschied des Alters, des Geschlechtes oder der Confession zu verwenden; sofern dieselben mindestens ein Jahr sich in der Gemeinde aufgehalten haben. Wenn und soweit in einem Jahre eine Verteilung der Zinsen nicht erfolgt, sind die letzteren zum Kapital zu schlagen.“

Übrigens scheinen die Walsdorfer dem Markus Löwenstein die ihm nachgesagten Unterschlagungen nichtlange übelgenommen zu haben, wie man aus dem folgenden Eintrag auf Seite 53 der Pfarrchronik ersehen kann: „1867 kurz nach Pfingsten war ein ehemals hier wohnender Jude, Markus Löwenstein, aus San Fransisco, auf einige Zeit Deutschland besuchend, auch hierher nach Walsdorf gekommen, und der Ort freute sich, seinen früheren Bewohner wieder zu sehen und dieser ebenfalls. Für seinen Willkommen, den ihm die Walsdorfer erwiesen, wollte er sich erkenntlich zeigen und spendete nicht nur an Bedürftige reiche Gaben, sondern man kam auf den unglückseligen Gedanken, an demselben Sonntag Abend sämtliche 5 Wirtshäuser hier für den ganzen Ort aufzuthun, daß Jedermann auf Herrn Löwensteins Kosten essen und trinken konnte! Da gab es denn eine schandbare Nacht Voll Fressens und Saufens und wenige mögen sich daran unbeteiligt gelassen haben. Und diesen Sündenabend und Sündennacht 14 Tage nach dem heil. Pfingstfest. Das hat mich tief geschmerzt, als ich bei meiner Rückkehr (ich war gerade über diesen Sonntag verreist) von dem ganzen Unwesen Kunde erhielt. Gottes Antwort blieb auch nicht lange aus. Wenige Wochen danach wurden wir in einer Sonntagsnacht durch hiesigen Feuerlärm sehr erschreckt und hatten im Dorf angstvolle Stunden..“

Auch die „dankbare Gemeinde Walsdorf“ errichtete dem „Herrn Livingston zum bleibenden und ehrenden Gedächtnis“ eine Gedenktafel, die noch heute einen Raum im ehemaligen Rathaus ziert.
Angeregt durch den Unterstützungsnachweis für die Wilhelmine Lehmann stellte ich alle Ausgaben im Etat-Jahr 1895/96 zusammen – um die gebundenen Jahresrechnungen dieses Haushaltsjahres handelte es sich nämlich bei dem oben erwähnten Buch – die aus dem Livingstonfond finanziert worden waren. Insgesamt wurden in dem Rechnungsjahr, das vom 1.4.1895 bis zum 31.3.1896 dauerte, 1683 Mark und 78 Pfennig aus dem. Zinsertrag des Livingstonfond ausgegeben.

1750 Mark Zinsen warf die Schenkung jährlich ab und stand für die Armenunterstützung zur Verfügung.
Neben der Wilhelmine Lehmann erhielten noch 4 andere Personen eine wöchentliche Unterstützung von 1,50, 2,- oder auch 3,- Mark. Insgesamt wurden für die Unterstützung dieser 5 Personen 425,50 Mark ausgegeben. Die regelmäßige oder auch zeitlich begrenzte Lieferung von wöchentlich einem oder zwei Broten an Ortsarme durch die drei Bäcker Eul, Hirtes und Rühl kostete 136,4o Mark. Für Arzt und Arzneikosten wurden 99,24 Mark ausgegeben. Eine größere Zahl bedürftiger Einwohner wurde mit insgesamt 1020,84 Mark unterstützt. Die Bedürftigkeit hatte viele Gesichter; Menschen waren durch Krankheit in Not geraten, eine Mutter konnte das Pflegegeld für ihr minderjähriges uneheliches Kind nicht aufbringen, acht Konfirmandeneltern benötigten eine Beihilfe für die Einkleidung ihrer Kinder, eine Person hatte nicht das nötige Geld für die Hausmiete und schließlich war eine größere Anzahl von Personen nicht in der Lage, Bekleidung und Schuhwerk aus eigenen Mitteln zu finanzieren.

Da schon mehrfach von der „Wassermine“ in diesem Bürgerbrief die Rede war, möchte ich den Inhalt eines Beleges im Wortlaut wiedergeben. Es handelt sich um eine Rechnung des Spenglers und Pumpenmachers Joseph Lottermann aus Camberg vom 23.7.1895 an die Gemeinde Walsdorf: „einen eisenblech Ofen zum Federnputzen (für Mine) 6 Mark. “ Der Bürgermeister vermerkt dazu: „Obige sechs Mark werden dem Rechner Lehmann dahier zur Auszahlung aus dem Livingstonfond überwiesen. Gleichzeitig wird bescheinigt, daß der betreffende Ofen für die arme Wilhelmine Lehmann dahier angefertigt wurde.“

Übrigens gab es um die Verwendung der Zinsen aus dem Livingstonfond 1895 eine Kontroverse zwischen dem Bürgermeister und einem Walsdorfer Bürger, wie ein Beleg Nr. 450 ausweist. Der Rechnungssteller Homburg von Idstein schickt der Gemeinde folgende Gebühren: „Für meine im Auftrag des Herrn Bürgermeisters Ochs zu Walsdorf aufgestellte Nachweisung über die Verwendung der Zinsen des Markus Livingstonschen Legats zu Walsdorf vom 1.Januar 1888 bis zum Schlusse des Etatjahres 1. April 1894/95 werden liquidiert: Zeitanwendung 1 Tag 7 Mark.“

Der Bürgermeister weist die Rechnung mit folgendem Vermerk zur Zahlung an: „Die Richtigkeit obiger Nachweisung wird mit dem Bemerken bescheinigt, daß die Aufstellung wegen gemachter Verleumdung des Adolf Hofmann von hier beim Königlichen Landrathsamt über falsche Verwendung der Livingstonfondgelder von Seiten des Bürgermeisters und Gemeinderechners geschehen ist.“
Nun sagen die einzelnen Zahlen, die oben angegeben wurden, verhältnismäßig wenig aus. Wenn man sich ein Bild davon machen will, ob 1,50 Mark Unterstützung in der Woche, 20 Mark Beihilfe für einen Konfirmanden oder Einzelunterstützungen zwischen 50 und 100 Mark viel oder wenig waren, so braucht man Vergleichszahlen. Diese lassen sich in den Belegen leicht finden. Ein Laib Brot kostete z.B. 36 Pfennig, ein Paar neue Schuhe zu machen 6,50 Mark, das Schneidern eines Anzugs, wobei der Schneider Stoff und Futter stellte, 14,50 Mark, das Nähen einer Frauentuchjacke 1,50 Mark, eines Rockes 1,10 Mark und einer Schürze 20 Pfennig. Der Tageslohn für einen Handarbeiter betrug 2 bis 3 Mark je nach Schwere der Arbeit. Mit 20 Mark Beihilfe konnten demnach Konfirmandeneltern für ihre Kinder beinahe einen Anzug und ein paar Schuhe anschaffen. Da kann man schon von einer fühlbaren Unterstützung sprechen.

Der vorliegende Bericht wirft lediglich ein Schlaglicht auf ein Jahr, das ursprünglich aus einem ganz anderen Grund herausgegriffen worden war. Gewiß, es vermittelt ein anschauliches Bild von der Armenunterstützung; um sich jedoch ein umfassendes und vollständiges Bild von der Armenbetreuung und insbesondere von der segensreichen Wirkung der Stiftung des Markus Löwenstein zu machen, bedarf es noch weiterer Untersuchungen, deren Ergebnisse dann vorgelegt werden.

Helmuth Leichtfuß

DIE WASSERMINE

Wenn ich heute über die begradigte, gut ausgebaute und gepflegte B 8 zu alten Freunden nach Ennerich, Runkel oder Villmar fahre, dann muß ich immer daran denken, wie sie noch, mit unseren heutigen Begriffen bemessen, sommers ein holprig staubiger und winters ein verschlammter besserer Feld‑ oder Waldweg war. Trotzdem waren wir schon in der Zeit vor dem 1. Weltkrieg während der Sommerferien oft auf ihr mit dem Fahrrad, auch das war damals etwas Besonderes, unterwegs. Frühmorgens schon, wenn im Stall die Arbeit begann, brachen wir auf, um, ehe es heiß wurde, unser Ziel zu erreichen.

Bei einer solchen Fahrt, ich muß heute noch, wenn ich die Stelle zwischen Erbach und Oberselters passiere, daran denken, begegnete sie uns, ihre schwere, zweirädrige Karre keuchend vor sich herschiebend, – die Wassermine. Gegen Mitternacht schon war sie von Walsdorf aufgebrochen, um in Niederselters rechtzeitig zur Stelle zu sein, um am Überlauf des weltberühmten Mineralbrunnens ihre 150 – 180 braunen Krüge zu füllen; denn ehe es heiß wurde, mußte sie wieder zu Hause sein, sonst machte sich durch die Erwärmung und Erschütterung die im Wasser gebundene Kohlensäure frei, und die Krüge gingen „hoch“, d.h. der Stopfen flog heraus.

Vor Walsdorf angekommen, halfen ihr die Kinder vom Untertor die Karre den Burgberg hinaufschieben. Als Belohnung dafür schenkte sie ihnen zu Weihnachten einen Griffel für die Schiefertafel. Das Selterswasser verkaufte sie für ein, an der aufgewandten Zeit und Mühe bemessen, bescheidenes Entgeld von fünf Pfennigen pro Krug von Tür zu Tür. Sie nahm damit vorweg, was heute ein bedeutendes, wohlorganisiertes, lohnendes Gewerbe geworden ist.

Wer war die Wassermine?

„Sie ist noch mit uns verwandt!“ sagte mein Vater, als sie bescheiden höflich grüßend an uns vorüber fuhr; denn sie war eine Cousine meines Großvaters Adam August Lehmann, in Walsdorf der «Schusterpedder“ genannt. Ihre Mutter war Maria Dorothee Lehmann, geb. 1809. Sie hatte zwei uneheliche Töchter, von denen die älteste heiratete und mit ihrem Mann von Walsdorf fortzog, die jüngste aber, die 1841 geborene Karoline Wilhelmine, später die Wasssermine genannt, blieb unverehelicht bei ihrer Mutter, bis diese 1890 81jährig völlig verarmt im Walsdorfer Armenhaus verstarb. Wilhelmine litt lebenslang unter dem Makel ihrer unehelichen Geburt und, obwohl sie eine stattliche, ja in ihrer Jugend schöne Frau war, hatte sie keine Gelegenheit zum Heiraten gefunden.

So lebte sie denn im baufälligen Armenhaus (heute Am Pfarrbogen 21) am unteren Rande des Existenzminimums weiter. Die Wohnung bestand aus zwei kleinen Kammern, die eine mit Kochstelle, einem wackeligen Stuhl, ebenso Tisch und Bett, die andere mit den Geräten zur Bettfedernreinigung. Sie reinigte und spliß Bettfedern, hütete und rupfte Gänse, spann Wolle, putzte die Schulräume und half als Tagelöhnerin, wo sich Gelegenheit bot. In der Schuhmacherei meines Großvaters half sie bei der Herstellung roter Plüschpantoffeln und als ihr Vetter und Vormund sowie als Armenpfleger, Witwen- und Waisenrat und Kirchenvorstand unterstützte er sie zum Teil aus eigener Tasche, zum Teil aus den Mitteln der Walsdorfer Stiftungen. Beim Backen bekam sie einen Laib Brot, beim Schlachten -sie kam dann Zwiebeln schälen – kriegte sie etwas mit, und wenn ihre Schulden sich zu sehr angebaut hatten, bezahlte er sie beim Krämer. Ihre „Ecker“ Nachbarn nutzten sie noch aus, sie liehen bei ihr Schrubber, Aufnehmer, Schmierseife und sonstige Kleinigkeiten des täglichen Gebrauchs und vergaßen das Wiederbringen.
Bei ihrem Tode 1912 schrieb Pfarrer Hermann Tecklenburg ins Kirchenbuch: „Die Verstorbene lebte einsam im hiesigen Armenhaus. Sie war eine Tochter der unverehelichten Dorothee Lehmann. Zuletzt war sie sehr gebrechlich und trotz ihres anerkannten früheren Fleißes arm geblieben. Das Los der vereinsamten armen Alten ist auf dem Lande noch immer überaus traurig, auch wenn es rechtschaffene Leute sind. Es fehlt noch sehr an der Achtung gegen solche, besonders, wenn sie im Armenhaus wohnen. Daß der Pfarrer in der Armenpflege nichts zu sagen hat, ist mir auch hier wieder als unerhörte Folge der fortgeschrittenen Demoralisierung vor Augen getreten.

Gustav Lehmann