Bürgerbrief 74: August 2000

Die Selbstverwaltung der Gemeinden im 20. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel von Walsdorf

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte Deutschland mehrere tiefgreifende politische Umbrüche – 1918 den Sturz der Monarchie, 1933 das Scheitern der Weimarer Republik und 1945 das Ende der NS – Diktatur. Die Umbrüche blieben nicht ohne Rückwirkung auf die politische Ordnung der Gemeinden und Städte, denn die jeweils neuen Strukturprinzipien – Demokratie nach 1918 und 1945 und Führerprinzip nach 1933 – sollten bis auf die unterste staatliche Ebene Geltung erlangen.

Gemeinden und Städte haben im Laufe der Geschichte das Recht erhalten, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln. Entsprechend definiert der § 1 der Hessischen Gemeindeordnung vom 25. Februar 1952 (GVBl. S. 11) die Gemeinde als „die Grundlage des demokratischen Staates. Sie fördert das Wohl ihrer Einwohner in freier Selbstverwaltung durch ihre von der Bürgerschaft gewählten Organe.“

Die Aufgaben, die eine Gemeinde in freier Selbstverwaltung zu erledigen haben, sind vielfältig und umfangreich. § 19 der Gemeindeordnung weist ihr die Aufgabe zu „in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit die für ihre Bewohner erforderlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen öffentlichen Einrichtungen bereitzustellen.“

Die Gemeindeordnung der Kaiserzeit

 Das alte Nassauische Gemeindegesetz vom Jahre 1854 war 1897 von der Landgemeindeordnung für die Provinz Hessen – Nassau vom 4. August  (Ges. Sam. S. 301) abgelöst worden. Diese hatte, wie ihre Vorgängerin, einen ganz und gar konservativen Charakter. Auch in der neuen Ordnung galt das sogenannte Dreiklassen – Wahlrecht, waren nur die Männer wahlberechtigt und erfolgte die Stimmabgabe öffentlich zu Protokoll. Darüber hinaus war die Wahlberechtigung an weitere Bedingungen geknüpft. U.a. mussten die männlichen Personen „selbständig“ sein, d. h. das 24. Lebensjahr vollendet und einen  eigenen Hausstand haben, wozu der Besitz eines Wohnhauses gehörte oder die Veranlagung mit mindestens 3 Mark an Grund- oder Gebäudesteuern. Die politischen Rechte der Bürger waren keineswegs gleich. Das Gewicht ihrer Stimme war vom Vermögen abhängig. Je nach der Höhe der von ihnen zu entrichtenden direkten Staats- und Gemeindesteuern wurden sie einer von drei Abteilungen zugewiesen. Dazu wurde die Gesamtsumme der Steuerbeiträge aller Bürger in drei Teile geteilt. Je ein Drittel entfiel auf jede Abteilung. Vom Höchsteuerzahler angefangen, wurden dann jeder Abteilung soviel Personen zugeteilt, als erforderlich waren, bis das Drittel der errechneten Gesamtsumme der Steuererträge erreicht war.  Jede Abteilung hatte 4 der insgesamt 12 Gemeindeverordneten zu wählen. Es wurden Personen und keine Listen gewählt. Die Wähler einer Abteilung waren nicht daran gebunden, die Verordneten aus ihrer Mitte zu wählen. Die Gemeindeverordneten wurden auf die Dauer von 6 Jahren gewählt. Alle 2 Jahre schied ein Drittel der Gemeindeverordneten aus jeder Abteilung aus und wurde durch Neuwahlen ersetzt. Da 4 Abgeordnete aus 3 Abteilungen ausscheiden mussten, bestimmte die Gemeindevertretung in welcher Reihenfolge aus einer Abteilung zwei Abgeordnete neu zu wählen waren. Da im Ortsarchiv noch 5 Wählerlisten für die Kommunalwahlen aus den Jahren 1909 bis 1916 vorhanden sind, lässt sich gut nachzeichnen, wie die Verhältnisse in Walsdorf waren. 1912 z. B. waren 195 Männer wahlberechtigt, von denen 16 zur ersten Abteilung, 33 zur zweiten Abteilung und 146 zur dritten Abteilung gehörten. Die Gesamtsumme des Jahresbetrages der direkten Staats- und Kommunalsteuern betrug 5740,97 M. Auf jede Abteilung entfiel der dritte Teil, also rd. 1914 M. Zu der ersten Abteilung gehörten die Bürger, die Steuern in Höhe von 295,80 M bis 90,10 M, zu der zweiten von 86,40 M bis 40,10 M und zu der dritten von 39,24 M. bis 3 M zahlten. Da außer den 5 Wählerlisten auch noch 17 Wahlprotokolle aufbewahrt wurden, lassen sich auch Aussagen über die Wahlbeteiligung machen. Die Landgemeindeordnung enthielt keine Vorschrift über die Mindestbeteiligung in den einzelnen Abteilungen, wohl aber über die erforderliche Stimmenzahl. So war ein Kandidat nur gewählt, wenn er die absolute Mehrheit, also eine Stimme mehr als die Hälfte der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Aus den Jahren 1910 und 1914 sind die Wahlprotokolle von allen drei Abteilungen vorhanden. Danach haben in der ersten Abteilung 7 von 16 bzw. 6 von 17 gewählt, in der zweiten Abteilung 17 von 37 bzw. 14 von 32 und in der dritten Abteilung 38 von 153 bzw. 33 von 160. Die Wahlbeteiligung lag 1910 bei 30,0 % und 1914 bei 25,4 %. Offensichtlich haben sich die Wähler der einzelnen Abteilungen in Vorgesprächen auf einzelne Kandidaten weitgehend geeinigt, denn alle Gewählten wurden im ersten Wahlgang mit absoluter Mehrheit gewählt. Der Gemeindevorstand bestand aus dem Bürgermeister, einem Beigeordneten und 3 Schöffen. Die Amtszeit des Bürgermeisters betrug 8 Jahre, die des Beigeordneten und der Schöffen 6 Jahre. Alle Mitglieder des Gemeindevorstands bedurften der Bestätigung durch den Landrat und wurden auch von ihm vereidigt. Adolf Roth war Bürgermeister von 1900 bis zu seinem Tod am 6.12.1918. Sein Nachfolger wurde Heinrich Lehmann.

Aus den ersten Monaten nach der Revolution vom 9. November 1918 gibt es so gut wie keine signifikanten Nachrichten aus dem Gemeindeleben. Das hängt möglicherweise mit der Krankheit und dem Tod des Bürgermeisters zusammen. Lediglich ein Eintrag erlaubt einen Rückschluss darauf, dass Ausstrahlungen des revolutionären Geschehens bis nach hier gedrungen waren. Als Mitunterzeichner des Protokolls der Gemeindevertretersitzung vom 5. Dezember 1918, auf der nur ein Tagesordnungspunkt zur Elektrizitätsversorgung beraten wurde, unterschreibt Karl Lehmann neben dem Bürgermeister-Stellvertreter und zwei Gemeindevertretern als Vorsitzender des Bauern- und Arbeiterrates.

Die Demokratisierung der Gemeindeverfassung im Jahre 1919

 Schon 4 Tage nach der Novemberrevolution 1918 hatte die Preußische Regierung einen Aufruf an das preußische Volk erlassen, in dem sie ihre Grundsätze zur Neuordnung der Politik darlegte: „Aufgabe der neuen Preußischen Landesregierung ist, das alte, von Grund auf reaktionäre Preußen so rasch wie möglich in einen völlig demokratischen Bestandteil der einheitlichen Volksrepublik zu verwandeln. Von den zahlreichen Aufgaben, vor die sich das neue, freie Preußen jetzt und in Zukunft gestellt sieht, seien …hervorgehoben … völlig gleiches Wahlrecht beider Geschlechter für alle Gemeindevertretungen in Stadt und Land…“ (Preußische Gesetzessammlung 1918, S. 187)  Die Neuwahl einer Gemeindevertretung fand nach der Auflösung der alten am 26. Oktober 1919 statt. Erstmals galt für die Wahl einer Gemeindevertretung das allgemeine, gleiche und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen ab dem 20. Lebensjahr. An die Stelle der Personenwahl trat die Listenwahl. Die Zahl der Sitze für die einzelnen Listen wurden nach dem Höchstzahlverfahren ermittelt. Für die Wahl am 26. Oktober waren zwei Listen eingereicht worden, Vorschlag 1 Gustav Ochs, Landwirt, und Vorschlag 2 Ferdinand Wissig, Maurer. Gemäß § 27 der Wahlvorschrift diente „der Name des Bewerbers, der in dem Wahlvorschlag an erster Stelle genannt wird, zur Bezeichnung des Wahlvorschlages.“ Die Liste Ochs war in einer Besprechung der Bauernschaft am 12. Oktober 1919 aufgestellt worden und enthielt die Namen von 8 Bauern und 4 Bauern, die nebenbei ein Handwerk betrieben. Dagegen standen auf der Liste Wissig nur Bewerber, die hauptberuflich ein Handwerk ausübten und/oder der SPD nahestanden, wie der Vorschlag für die Wahlen von 1924 ausweist. 398 Personen haben 1919 gewählt. 7 Stimmen waren ungültig. Auf den Wahlvorschlag 1 entfielen 268, auf den Vorschlag Wissig 123 Stimmen; das bedeutete 8 Sitze für den Vorschlag G. Ochs und 4 Sitze für den Vorschlag F. Wissig. Bei der am 30. November 1919 durchgeführten Neuwahl des Bürgermeisters erhielt der seit knapp einem Jahr amtierende Amtsinhaber alle 12 Stimmen, der Beigeordnete jedoch nur 7. Bei der Schöffenwahl war das Verhältnis 8 : 4, was zwei Schöffen für die Liste 1 und einen Schöffen für die Liste 2 bedeutete. Innerhalb des Dorfes gab es bei den beiden nächsten Kommunalwahlen vom 4. Mai 1924 und vom 17. November 1929 keine wesentlichen Verschiebungen. 1924 bewarben sich Listen der Bauern und der SPD. Das Sitzverhältnis war wieder 8 : 4. 1929 errangen die Bauern, jetzt Landvolkpartei, 7 Sitze, die SPD 3 und die Liste Handwerk und Gewerbe 2. Bürgermeister während des ganzen Zeitraums bis Mai 1934 war Heinrich Lehmann.

Die Gemeindeverwaltung während der NS-Zeit.

 Bei den Kreistagswahlen im November 1929, die zusammen mit den Gemeindewahlen durchgeführt wurden, spielte die NSDAP noch eine geringe Rolle. 5,2 % der Stimmen hatte sie auf Kreisebene erhalten; in Walsdorf 1,2 % . Bei der Gemeindewahl war sie, wie oben dargestellt, nicht angetreten. Wenn man sich allerdings vergegenwärtigt, dass die Nationalsozialisten ihren Stimmenanteil in den beiden Reichstagswahlen im Jahre 1932 von 18,3 % im Jahre 1930 auf 37,3 % bzw. 33,1 % steigern konnten und stärkste Partei im Reichstag geworden waren, hat man eine Erklärung dafür, dass die bestehenden Gemeindevertretungen durch Verordnung des Preußischen Staatsministeriums bereits am 4. Februar, also ganze 5 Tage nach der Machtübernahme am 30. Januar 1933, aufgelöst wurden. Die Partei hegte die Erwartung, mit einem Schlag auch in den Gemeinden und Kreisen die stärkste Partei zu werden, wenn nicht gar die absolute Mehrheit zu erreichen. Neuwahlen waren für den 12. März 1933, also 8 Tage nach den Reichstags- und Landtagswahlen, ausgeschrieben. In Walsdorf gab es folgende Ergebnisse: Die NSDAP, auf deren Liste neben Sympatisanten der Partei Anhänger der früheren Landvolkpartei bzw. der Liste der Handwerker und Gewerbetreibenden kandidierten, erhielt 66,2 % der Stimmen und 9 Sitze in der Gemeindevertetung. Die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, vorher DNVP, erzielte 10,3 % und erhielt einen Sitz. Die SPD kam auf 20,6 % und bekam 2 Sitze. Für die KPD stimmten 1,7 %. Am 15. Dezember 1933 erließen die Nationalsozialisten ein neues Gemeindeverfassungsgesetz.(Ges.Samml.S.427). Die Zielsetzungen, die sie mit diesem Gesetz verfolgten, wurden in den Ausführungsanweisungen zum Gesetz (Min.Bl. 1934 S.271) mit aller Deutlichkeit herausgestellt. Dort heißt es:“ Der grundlegende Wandel des Gemeindeverfassungsrechts tritt besonders in der restlosen Durchführung der Führerverantwortlichkeit hervor. In Zukunft trägt der Leiter der Gemeinde die volle und ausschließliche Verantwortung für die Verwaltung der Gemeinde. Irgendwelche Beschlüsse gemeindlicher Organe, die ihn binden, gibt es nicht mehr … Der Leiter der Gemeinde ist Beauftragter des nationalsozialistischen Staates. Oberster Grundsatz für seine gesamte Verwaltungsführung muss demnach sein, dass jede seiner Betätigungen mit dem nationalsozialistischen Gedankengut und den Zielen der Bewegung in engstem Einklang steht … Die Gemeinderäte sind nicht wie bisher Mitglieder einer Vertretungskörperschaft, Inhaber eines Mandates, sondern Ehrenbeamte. Sie sind nicht Mitglieder eines Kollegiums, sondern nur Gemeinderäte als Einzelpersonen. Auch in den gemeinsamen Sitzungen beraten sie den Leiter der Gemeinde ausschließlich als Einzelpersonen. Eine Kontrolle der Verwaltung im früheren Sinne steht ihnen nicht zu. Sie ist ausschließlich Angelegenheit der Aufsichtsbehörde.“

Wie eingeschränkt die Mitwirkungsrechte der Gemeinderäte waren, belegt ein Schreiben des Landrates vom 16. Januar  1937 an den Bürgermeister. Dort heißt es: „Nach ihrem Bericht vom 11. 9. 1936 haben die Gemeinderäte die von mir nach den neuen Richtlinien des Herrn Oberpräsidenten festgesetzte Entschädigung für Bürgermeister in Höhe von 1.25 RM je Jahr und Einwohner abgelehnt und halten eine Entschädigung von 1,15 RM für ausreichend. Ich bemerke dazu, dass die Gemeinderäte nur zu hören sind und kein Recht zur Festsetzung haben.“ Das Gemeindeverfassungsgesetz vom Dezember 1933 wurde am 1. April 1935 durch die Deutsche Gemeindeordnung (Reichs.Ges.Bl. S.49) ersetzt. An der Intention hat sich nichts geändert. Als Ziel der Gemeindeordnung wird angegeben, „die Gemeinden in enger Zusammenarbeit mit Partei und Staat zu höchsten Leistungen zu befähigen und sie damit instand zu setzen, im wahren Geist des Schöpfers gemeindlicher Selbstverwaltung, des Reichsfreiherrn vom Stein, mitzuwirken an der Erreichung des Staatszieles: in einem einheitlichen, von nationalem Willen durchdrungenen Volke die Gemeinschaft wieder vor das Einzelschicksal zu stellen, Gemeinnutz vor Eigennutz zu setzen und unter Führung der Besten des Volkes die wahre Volksgemeinschaft zu schaffen … Die Gemeinderäte haben die Aufgabe, die dauernde Fühlung der Verwaltung der Gemeinde mit allen Schichten der Bürgerschaft zu sichern. Sie haben den Bürgermeister eigenverantwortlich zu beraten und seinen Maßnahmen in der Bevölkerung Verständnis zu verschaffen. Sie haben bei ihrer Tätigkeit ausschließlich das Gemeinwohl zu wahren und zu fördern.“ Die am 12. März 1933 gewählte Gemeindevertretung hatte, obwohl ihre Ergebnisse für die Nationalsozialisten wie erwartet günstig waren, nur eine kurze Lebensdauer. In der Sitzung vom 27. März waren die neuen Vertreter verpflichtet worden. Ihre letzte Sitzung hatten sie am 8. November 1933. Bis zum 31. März 1934 tagte der Bürgermeister noch dreimal mit dem alten Gemeindevorstand. Im Juni 1934 wurden gemäß dem neuen Gemeindeverfassungsgesetz anstelle der gewählten ehrenamtlichen Bürgermeister und Gemeindevorsteher vom Landrat neue Bürgermeister und Schöffen berufen. Ferdinand Seyberth löste den seitherigen Bürgermeister Lehmann ab und übte das Amt bis 1945 aus. Zwei Schöffen standen ihm zur Seite. Mit Wirkung vom 1. Oktober 1935 wurden dann „auf Grund der Berufung durch den Beauftragten der NSDAP“ vier Gemeinderäte durch den Bürgermeister ernannt. Bis 1945 fanden keine Gemeindewahlen mehr statt. Bürgermeister, Schöffen und Gemeinderäte tagten in der Zeit vom Juni 1934 bis zum 27. März 1945, dem Tag vor der Besetzung Walsdorfs durch amerikanische Truppen, lediglich 38 mal. In der gesamten Kriegszeit fanden nur fünf Sitzungen statt, die letzte am 27. März 1945, auf der beschlossen wurde, „aus dem Lager Becker 100 Zentner Zucker an die Gemeinde Walsdorf“ abzugeben. Die Beratungsgegenstände waren eng begrenzt. Sie beschränkten sich fast ausschließlich auf den Haushalt der Gemeinde, auf verschiedene Satzungen, Holzverkäufe und die Anstellung von Gemeindebediensteten. Im Durchschnitt standen nicht einmal zwei Punkte auf der Tagesordnung der Sitzungen. Spezifisch parteipolitische Themen waren nur zweimal Gegenstand der Beratung. Am 2. September 1935 wurde die aufgestellte Satzung über den Verkehr mit den Juden einstimmig angenommen, und am 28. April 1936 wurde festgelegt, dass die Lieferanten der Gemeinde in der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) sein sollten. Wenn es keine anderen Berichte und Überlieferungen über die Zeit von 1934 bis 1945 gäbe und man allein auf die Protokolle der Gemeinderatssitzungen angewiesen wäre, könnte man sich kein annähernd zutreffendes Bild über diesen Zeitabschnitt machen. Die NS-Diktatur und der Krieg hätten nicht stattgefunden. Weder ist in den Protokollen die Rede von der Erfassung von Erntevorräten, von Ablieferungsverpflichtungen, von der Rationierung von Rohstoffen bzw. von der Sammlung von Altmaterial, von Lebensmittelkarten und Bezugscheinen, noch von der Unterbringung von Evakuierten, von Kriegsgefangenen, von Fremdarbeitern oder von irgendwelchen Auswirkungen des Krieges auf die Menschen oder das Dorf.

Der Neubeginn nach 1945

Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945 keine fortexistierende Staatsgewalt mehr. Der Zweite Weltkrieg endete mit dem völligen staatlichen und politischen Zusammenbruch Deutschlands. In den Dörfern und Städten setzten die US-Truppen bei ihrem Vorrücken die seitherigen Amtsträger ab und politisch unbelastete Personen als neue Bürgermeister ein. Walsdorf war am 28. März 1945 von amerikanischen Soldaten besetzt worden. Noch am gleichen Tage entließen amerikanische Offiziere den Bürgermeister, die Schöffen und Gemeinderäte und ernannten nach vorheriger Beratung mit dem Ortspfarrer Otto Baum zum neuen Bürgermeister. Bald danach wurde von der Besatzungsmacht auch ein neuer Gemeinderat berufen. (Vergl. Bü.Br. Nr. 16).

Bevor die Amerikaner einrückten, waren auf Befehl der Kreisleitung der NSDAP in Bad Schwalbach alles Geheimmaterial und diskreditierender Schriftverkehr verbrannt worden, was zur Folge hat, dass dieser Abschnitt der Ortsgeschichte nur dürftig dokumentiert ist. Ein Schreiben des Landrates an Bürgermeister Baum vom 11. Mai 1945 wirft ein helles Licht auf die Schwierigkeiten des Anfangs. Dort heißt es: „Ihre Mitteilung über die Einsetzung eines Dreierausschusses und die Anmeldung von Ansprüchen von dieser Seite hat mich nicht überrascht. Ähnliche Vorgänge waren mir schon aus den Nachbargemeinden bekannt. Es handelt sich in allen Fällen um Übergriffe und Missgriffe. Die verantwortlichen Stellen habe ich bereits veranlasst, diese Versuche unerlaubter Einmischung sofort aufzugeben und den schwierigen Aufbau nicht zu stören. Es bleibt dabei, dass Sie sich zweckmäßigerweise aus der Gemeinde Berater in wichtigen Angelegenheiten auswählen und auf die frühere Zahl der Gemeinderäte und die Zusammensetzung der Gemeinde nach Ständen Rücksicht nehmen. Die Vorladung vom 9. Mai 1945 beachten Sie nicht. Ich erlaube Ihnen nicht, dorthin zu gehen.“

 Die erste Sitzung des von der Besatzungsmacht ernannten Bürgermeisters mit 7 Beratern, die er wahrscheinlich gemäß dem Schreiben des Landrats ausgewählt hatte, fand am 15. Mai 1945 statt. Im Protokollbuch wird festgehalten: „Der Bürgermeister hielt eine kurze, aber kernige Ansprache und wies vor allem auf den Ernst der Zeit hin und ermahnte alsdann die Ratsmitglieder treu und gewissenhaft mitzuhelfen und zu beraten nach altem Recht und Gerechtigkeit, damit jedermann wieder ein wahrer Bürger der Gemeinde Walsdorf werde, frei und wahr und treu dem Gott, dem Lenker des Schicksals des so schwer getroffenen Vaterlandes. Unter die Vergangenheit einen Strich zu ziehen und von vorn wieder anzufangen. Das walte Gott.“ Mit drei Tagesordnungspunkten beschäftigte sich das Gremium in dieser Sitzung: Die russischen Zwangsarbeiter sollten so schnell wie möglich fortgeschafft, Wohnungen für Evakuierte gerecht verteilt und dem selbstgebildeten Dreierausschuss keine Beachtung mehr geschenkt werden. Das politische Leben auf überörtlicher Ebene kam nur langsam in Gang. Durch die Proklamation Nr. 2 der amerikanischen Besatzungsmacht vom 19. September 1945 wurden in der amerikanischen Zone die Länder Bayern, Württemberg  und Baden bestätigt und Großhessen als neues Land gebildet. Am 1. Oktober wurde Prof. Dr. K. Geiler zum ersten Ministerpräsidenten des neuen Landes Hessen ernannt. Im Dezember 1945 wurden die vier Parteien CDU, KPD, LPD und SPD zugelassen. Die eingesetzte Administration erließ am 21. Dezember 1945 eine neue Gemeindeordnung (GVBl 1946 S.1), die die Voraussetzung dafür war, dass demokratisch legitimierte Gemeinde- und Kreisgremien an die Stelle der von der Besatzungsmacht eingesetzten treten konnten. Als Datum für die ersten Kommunalwahlen in Hessen nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der 27. Januar 1946 festgesetzt. Um die Stimmen der 482 Wahlberechtigten in Walsdorf bewarben sich Listen der CDU und SPD. Die CDU erhielt 205 Stimmen (= 55,1 %), die SPD 167 (= 44,9 %). 50 Stimmen waren ungültig. Mit 87,2 % Wahlbeteiligung und 88,2 % gültiger Stimmen machten die Bürger deutlich, dass sie ihre Angelegenheiten wieder in die Hand nehmen wollten. Auf der Gemeindeebene änderte sich bei den kommenden Kommunalwahlen das Bild wieder. Anstelle einer CDU-Liste warben bei der Gemeindewahl am 25. April 1948 die Listen „Handwerk und Gewerbe“ und „Ortsbauernschaft“ um die Stimmen des sog. bürgerlichen Lagers. Bei den fünf folgenden Kommunalwahlen kandidierten Vertreter der Bauern, des Handwerks und sog. freier Berufe auf der Liste der Bürgerliche Wählergruppe (BWG). Im Gegensatz zu diesen Veränderungen im bürgerlichen Lager stellte die SPD auch weiterhin Parteilisten auf. Nur einmal, bei der Kommunalwahl am 28. Oktober 1956, trat sie unter der Bezeichnung „Arbeiterliste“ an. Der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) stellte einmal von 1960 bis 1964 einen Abgeordneten.Obwohl sich die Sozialstruktur Walsdorfs nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich wandelte, zuerst durch das Anwachsen der Bevölkerung von ca. 800 Einwohnern vor dem Krieg auf rd. 1150 im Jahre 1952 durch die Zuwanderung der Heimatvertriebenen, in der Folge durch die drastische Reduzierung der selbständigen bäuerlichen und handwerklichen Betriebe und weiteren Zuzug von außen, änderte sich an den Mehrheitsverhältnissen in der Gemeindevertretung gegenüber der Weimarer Zeit nichts Wesentliches. Die Bürgerliche Wählergruppe erreichte bis zum Ende der Selbständigkeit der Gemeinde immer eine Mehrheit zwischen 55 und 69 % der gültigen Stimmen und damit die Mehrheit im Gemeindevorstand und der Gemeindevertretung. An der Spitze der Gemeindeverwaltung standen von 1945 bis 1952 Bürgermeister Otto Baum und von 1952 bis zur Eingliederung Walsdorfs in die Stadt Idstein 1971 Richard Scheid II.

 Walsdorf wird Stadtteil von Idstein

 Die vom Hessischen Landtag beschlossene Verwaltungsreform hatte rege Verhandlungen zur Neuordnung unseres Raumes zur Folge. Walsdorf sollte nach den Vorgaben des Innenministeriums mit Wörsdorf, Wallrabenstein und einigen anderen eine neue Gemeinde bilden. Wir verhandelten von uns aus aber auch mit Idstein und Camberg. Die Ergebnisse waren so, dass die Gemeindevertretung am 8. Juni einstimmig beschloss, Walsdorf solle zum 1. Oktober 1971 in die Stadt Idstein eingegliedert werden.

Mit diesem Beschluss endete eine jahrhundertealte Selbständigkeit. Wir waren uns aber bewusst, dass die Kommunalreform eine notwendige Folge der Änderungen der Wirtschafts- und Versorgungsstrukturen und der anspruchsvolleren Lebensgewohnheiten der Bürger war und dass auf Dauer die kommunalpolitischen Aufgaben in den Bereichen Wasserversorgung, Abwasser- und Müllbeseitigung, Energieversorgung, Datenverarbeitung, Dorferneuerung, Verkehrswesen und Kultur mit den herkömmlichen kleinen ehrenamtlichen Verwaltungen nicht befriedigend zu lösen waren. Anstelle des Beschlussgremiums Gemeindevertretung trat auf örtlicher Ebene das Beratungsgremium Ortsbeirat. Natürlich war den Gemeinden, die ihre Selbständigkeit aufgeben sollten, daran gelegen, dass sie in wichtigen Fragen dem Magistrat und der Stadtverordnetenversammlung gegenüber ihre Wünsche zur Geltung bringen konnten. Bürgermeister und Verwaltung ihrerseits waren von einer breiten Mitwirkung der neuen Gremien nicht sonderlich begeistert. Entsprechend karg fiel auch der Entwurf der Geschäftsordnung für Ortsbeiräte aus, den der Magistrat ohne vorherige Beratung durch die Ortsbeiräte in der ersten Sitzung der Stadtverordnetenversammlung nach der Kommunalwahl am 22. Oktober 1972 dieser zur Beschlussfassung vorlegte.  Unter den wichtigen Angelegenheiten, zu denen der Ortsbeirat zu hören sein sollte, wurden u.a. aufgeführt: Entwurf des Haushaltsplanes, Entwurf von Bebauungsplänen, Standortfragen für öffentliche Einrichtungen und Investitionsplanungen zu Objekten des Stadtteils. Auf meine Initiative haben alle Ortsbeiräte der Stadt gleichlautende Stellungnahmen zu der vorläufigen Geschäftsordnung beschlossen und erreicht, dass in die endgültige Fassung der Geschäftsordnung für Ortsbeiräte  folgende Punkte zusätzlich aufgenommen wurden: Die Ortsbeiräte sind zu hören bei: Erlass, Aufhebung und Änderung von Satzungen und Gebührenordnungen, welche den Stadtteil betreffen, und der Geschäftsordnung für Ortsbeiräte; zur Aufhebung oder wesentlichen Änderung der seitherigen Gemeindeeinrichtungen; zur Veräußerung und Vermietung  von Grundbesitz, der im Eigentum der früheren Gemeinde stand; zu Entwürfen von Flächennutzungsplänen, soweit sie den Stadtteil betreffen und zu Hauungs- und Kuturplänen für den ehemaligen Gemeindewald. Auch was die Zahl der Ortsbeiratsmitglieder betrifft, konnten wir uns gegen die Stadt durchsetzen. 5 Mitglieder statt jetzt 7 waren für Walsdorf vorgesehen. Auf der örtlichen Ebene änderte sich im Blick auf die politischen Gruppierungen zunächst nichts. Weiterhin stellten BWG und SPD die Bewerber um die Sitze in der Vertretungskörperschaft. Von 1989 an gehörten dann 2 Perioden lang zwei Vertreter der Bürgerlichen Wählergruppe der CDU an. In der laufenden Periode stellt die SPD 3, die CDU 2 und die BWG und die Freie Wählergemeinschaft (FWG) je einen Vertreter im Ortsbeirat. Das Amt des Ortsvorstehers begleiteten von 1971 bis 1985 Helmuth Leichtfuß, von 1984 bis 1993 Felix Hartmann, von 1993 bis 1997 Kurt Jeckel und seit 1997 Rolf Preusser.

Helmuth Leichtfuß

Redaktion: Monika Kiesau , Helmuth Leichtfuß, Manfred Wetzel